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Des „listigen Guidos“ Erben – Die Ariosophie von den Anfängen bis zum Armanenorden

Lange Zeit gehörten sie zu den unterschätzten „religiösen Sondergemeinschaften“ Deutschlands – die Armanen, selbsternannte Hüter und Retter des Heidentums, der germanischen und keltischen Traditionen, der europäischen Kultur und der weißen Rasse. Als ich die erste Fassung dieses Aufsatzes schrieb, war der Armanen-Orden (A. O.) noch ein zentraler Bestandteil der deutschen „Heidenszene“ und galt in der ohnehin nie sonderlich kritischen Esoterik-Szene als „harmlos“. Es ist zwar in den letzten Jahren etwas stiller um diesen „Orden“ geworden, aber er ist nach wie vor aktiv. Und nach wie vor nicht nur für „Neuheiden“ ein Ärgernis.

Nicht zuletzt lohnt es sich, den Armanenorden und seine Vorgeschichte etwas näher anzusehen, da er von allen rechtsextremen (Pseudo-) Heiden die Tradition der Ariosophie am „reinsten“ fortsetzt, einer Tradition, die in der deutschen Geschichte mehr als genug Schaden gestiftet hat.

listGuido „von“ List
Die Ariosophie hat zwei Hauptwurzeln: die „Theosophie“ nach Helena Blavatsky mit ihrer „Wurzelrassenlehre“ und ihrem Hang zur Geheimbündelei, und die romantisch-nationalistisch verklärte Germanentümelei des 19. Jahrhunderts. Guido „von“ List (1848 – 1919, eigentlich Karl Anton List, der Adelstitel war selbstgemacht) führte diese beiden Stränge zusammen.

In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts entstand in Wien aus einem deutsch-völkischen Kreis um den Politiker und Industriellen Georg Ritter von Schönerer, die „Alldeutsche Los-von-Rom-Bewegung“. Schönerer propagierte ein „nationales“ Christentum, und setzte die katholische Kirche, die er als anti-deutsches Unterdrückungselement sah, mit den germanenfeindlichen römischen Missionaren gleich. Seine politischen Ziele lagen in der Gründung eines „Großdeutschland“, das weitaus mehr als eine Vereinigung der deutschsprachigen Teile Österreich-Ungarns mit dem Deutschen Reich sein sollte, sondern praktisch ganz Mitteleuropa eingenommen hätte. Außerdem strebte er eine ständische Gesellschaft an, eine Art modernisiertem Feudalismus mit klar abgegrenzten Klassen, als Abwehr gegen die soziale Mobilität des modernen Industriestaates und das „Aufbegehren“ sozialistischer Arbeiter. Ähnliche „alldeutsche“ Gruppierungen gab es auch im Deutschen Reich. Schönerer nahe stand der „Bund der Germanen“, zu dessen Gedankengut neben einem heroisierten Germanenbild, das sich schon mit den damaligen historischen und archäologischen Erkenntnissen nicht in Einklang bringen ließ, ein dumpfer Antisemitismus gehörte.

List, übrigens zeitweise Sekretär des erstaunlich einflussreichen „Österreichischen Alpenvereins“, war im „Bund der Germanen“ sehr aktiv. Angeregt durch die Theosophie Helena Petrovna Blavatskys und durch die „Rassentheorie“ Arthur de Gobineaus entwickelte List ein Rassensystem, in dem die „Arier“ als am höchsten entwickelte „Rasse“ sowohl als Schöpfer aller Hochkulturen wie als Höhepunkt der Entwicklung der Menschheit stehen. Alle „farbigen Rassen“ sind in diesem Verständnis „weniger entwickelt“ als die Arier, die schon von der Biologie her zu ihren Herren bestimmt seien. Es ist in Lists Verständnis auch nicht weiter schlimm, wenn Indianer, Pygmäen, Eskimos oder andere „primitive“ Völker „verschwinden“, bzw. von „Stärkeren“ ausgerottet werden. (Hier fließt der damals weit verbreitete „Sozialdarwinismus“, ein kruder Missbrauch der darwinschen Evolutionstheorie als Rechtfertigung sozialer Ungleichheit und des Rassismus des imperialistischen Zeitalters ein.) Eine Sonderrolle in Lists „harmonischem“ und „naturgemäßen“ Rassenmodell nehmen die „natürlichen Feinde“ der „Lichtmenschen“, der helläugigen und blonden Arier, ein: Es sind die aus einer unnatürlichen Mischung der vierten und fünften blavatskyschen „Wurzelrasse“ hervorgegangenen „dunklen“ „Mondvölker“ – und die finstersten und heimtückischsten Vertreter dieser „dunklen“ Völker sind die Juden.

So weit kann die Ariosophie als eine rassistisch verschärfte Abart der Theosophie gesehen werden. Allerdings unterscheidet sich Lists Ariosophie unter anderem durch einen extremen Patriarchismus – Frauen sind in seinem Weltbild zum Kinderkriegen und zur Haushaltsführung gut und dem Mann „natürlicherweise“ unterlegen – von der immerhin von einer Frau begründeten Theosophie. Auch war sein Antisemitismus ausgeprägter als der der in Blavatskys Theosophie.

List folgt der unkritischen Religionsvermischung vieler Theosophen – alle Religionen seien in ihrem „esoterischen“ Kern dieselbe Religion. Eine monotheistische Religion des einen unnennbaren Gottes, denn alle Götter aller Religionen sind nur personifizierte Sondereigenschaften des „Einen“. Für das dumme Volk, alle die in ihrer geistigen Entwicklung noch nicht soweit sind, und die deshalb „naturgewollt“ die unteren sozialen Klassen einnehmen, sind die „exoterischen“ Religionen da. List bevorzugt hierfür seine mit sämtlichen historischen Fakten extrem großzügig umgehende Version der alten polytheistischen Religion der Germanen, die er „Wuotanismus“ nannte. Der „wahre“ esoterische und monotheistische Kern, der er „Armanismus“ oder „Wihinei“ nannte, war wenigen Wissenden, den „Armanen“ (Kunstwort aus „Arier“ und „Germane“) vorbehalten. Armanen waren zugleich Wissende, Gelehrte, Priester, Richter und Fürsten. Sie hätten dank ihrer okkulten Kräfte und mit ihrem „durch intuitives Wissen gefundenen Erkenntniswissen“ in diktatorischer Machtvollkommenheit über die alten „Ariogermanen“ geherrscht – und würden, ginge es nach List, wieder herrschen.

Bezeichnend sind seine Vorstellung vom Christentum: Das Christentum sei eigentlich eine germanische Religion, die aber von den Juden zu einer „Sklavenreligion“ entstellt worden sei. Außerdem seien die heutigen Juden gar nicht die Juden der Bibel. Der Ariosoph Gorsleben gibt in seinem Buch „Die Hoch-Zeit der Menschheit“ für den ario-germanischen Ursprung der biblischen Religion allen ernstes folgende „etymologische“ Begründung: Juden = Juten = Guten = Goten = Gottesvolk der Bibel …

List sah im „Wuotanismus“ vor allem als Instrument zur Erhaltung der arischen Rasse und zur Zucht einer „Edelrasse“. In einer Gesellschaftsordnung á la List hat der Adel die Aufgabe, ein Edelgeschlecht heranzuzüchten. „Adel“ ist im ariosophischen Utopia das Zeichen besonderer Rassereinheit. Auch die Ehe ist nichts anderes als eine Zweckgemeinschaft zur Aufzucht möglichst „hochwertigen“ Nachwuchses. Nur „reinrassigen“ Ariern sollten Freiheit und bürgerliches Recht gewährt werden. „Minderrassige“ seien für dienende Funktionen da, Tagelöhner und Sklaven, ohne Stimmrecht, Recht auf Grundbesitz oder die Möglichkeit, in höhere Positionen aufzusteigen. Diese Rassereligion begründete Guido „von“ List unter anderem mit der Lehre von der Wiedergeburt: Fast wie im Kastensystem des hinduistischen Indiens der Kolonialzeit wird jeder an dem Platz geboren, den er sich durch Taten in früheren Leben „verdient“ hatte – allerdings wird dieses Karma-Prinzip in ein rein europäisches, evolutionistischen Modell der „Höherentwicklung“ mit pseudo-darwinistischen Zügen eingebunden.

Der „listige Guido“ im Titel ist mehr als ein Wortspiel. Geschickt schaffte er es Industriellen, Adligen und hohen Beamten seine Lehre buchstäblich zu „verkaufen“: Er lieferte eine Ideologie, die selbst erbärmlichste Ausbeutung als „naturgegeben“ rechtfertigte, und deren „exoterische“ „Außenschicht“ sich trefflich dazu eignete, Bauern, Kleinbürger und „arische“ Arbeiter ruhigzustellen:
„Auch ihr gehört zu den „Edelmenschen“, auch wenn ihr für eine untergeordnete Position geboren seid. Ihr könnt ja immer noch auf die „Minderrassigen“ herunterschauen, die die Drecksarbeit machen. Seid ihr brav, werdet ihr im nächsten Leben adlige Herren sein, muckt ihr auf, kommt ihr das nächste Mal eben als Neger-Sklaven zur Welt.“

Außerdem „verkaufte“ List mit seiner Lehre gutes Gewissen, in dem er die Ausbeutung und Unterdrückung ganzer Kontinente „religiös“ rechtfertigte. Seine Gönner entlohnten ihn mit Geld und Beziehungen. So „investierte“ der Großindustrielle Friedrich Wanniek, der Stifter und Ehrenpräsident der „Guido-von-List-Gesellschaft“, 2000 Kronen (damals ein kleines Vermögen) in List. Erstaunlich ist Lists Talent, Verbündete zu finden. Wie man Seilschaften – in doppelter Wortbedeutung – bildet, hatte er ja schon im Alpenverein gelernt.

Höchst wirksam war der mystizistische Schleier, den List über seine Lehre breitete – egal, ob durch schlaue Überlegung oder rein intuitiv. Er glaubte – oder behauptete – das Geheimnis um die Runen und den Ursprung der Sprache von seinen Ahnen, durch Erberinnerung, erhalten zu haben. Ein großer Teil von Lists „Schauungen“ fand angeblich nach einer Augenoperation im Jahre 1902 statt, als er längere Zeit in einem völlig abgedunkelten Zimmer verbringen musste. Lists „Erkenntnisse“, die übrigens allen wissenschaftlich gesicherten Fakten widersprechen, erlangten nie die von ihm erstrebte akademische Anerkennung.

Zu den „Schauungen“ in der Zeit seiner Blindheit ist anzumerken, dass die „listschen Runendeutungen“ nicht allein auf seine Inspiration zurück gehen, die „geniale Grundidee“, die Runen den Zaubersprüchen Odins im Hávamál (einem Buch der altisländischen Lieder-Edda) zuzuordnen, und so auf 18 Runen zu kommen, hatte schon vor ihm ein Prof. Fr. Fischbach gehabt. Außer dem völlig ahistorischen 18-Runen „Armanenfuthark“ – das ältere Futhark hatte 24, das jüngere 16 und das angelsächsische 33 Runen – entwickelte er eine Ursilbentheorie, die sprachhistorisch völlig absurd ist und auf reinen Klangähnlichkeiten beruht. Die Deutung des Namens des germanischen Weltenbaums Yggdrasil (tatsächliche Bedeutung „des Schrecklichen Ross“) als „Ich trage Heil“ ist eine typische listsche „Interpretation“. Den Namen der Rune „Hagal“ („Hagel“) deutete List als „hag All“, „hege das All“. Übrigens geht auch die Bezeichnung „Sig-Rune“ (gedeutet als „Siegrune“, die „Doppelsigrune“ war das Symbol der SS) für die Rune Sowilo bzw. Sol (Lautwert: s) auf List zurück.

Durch seine Bemühungen um „wissenschaftliche Anerkennung“ und durch seine zahlreichen Bücher, u. A. „Deutsch-Mythologische Landschaftsbilder“ (1891) und seinen Bestseller „Das Geheimnis der Runen“ (1902), erhöhte sich sein Bekanntheitsgrad so sehr, dass 1908 die „Guido-von-List-Gesellschaft“ gegründet werden konnte, die Lists „Forschungen“ finanzierte und publizierte. Ihre Mitglieder stammten überwiegend aus der gesellschaftlichen „Elite“ Österreich-Ungarns: Großbürger, Adelige, Großindustrielle, Regierungsräte, Professoren und hohe Militärs. Außerdem gehörten ihr einige „völkische“ Vereinigungen und die gesamte „Wiener Theosophische Gesellschaft“ an. Seine Schriften gehörten und gehören zur „Leib- und Magenlektüre“ völkisch-esoterischer Kreise. Sie zählten auch zu der bevorzugten „Bildungslektüre“ Hitlers in seiner Wiener Zeit.

Vor allem Lists Runenbuch erreichte hohe Auflagen und genießt auch heute noch großes Ansehen bei völkischen Esoterikern. Es wurde zum Auslöser einer lange nachwirkenden „Runenwelle“ unter deutschen Okkultisten, die unter Lists Einfluss sogar eine pseudo-germanische Variante des Yoga, das „Runenyoga“, entwickelten.

Teil 2: Die Ariosophie – eine Quelle der nationalsozialistischen Ideologie

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